Heiligabend im Notaufnahmelager Stendal - unverhofft Patenonkel!
Heiligabend im Notaufnahmelager Stendal - unverhofft Patenonkel!
25. Dezember 2010 14:14
Kurz vor Wolfsburg war Schluss, der Zug stoppte, hielt eine halbe Stunde, fuhr zwei Minuten rückwärts, hielt eine Stunde. Dass es irgendwie am Wetter lag war klar, aber die Infos waren spärlich:
"...habe ich noch keine Informationen, wann es weitergeht, wie es weitergeht und wann wir wo ankommen..."
tönte es zwischendurch aus dem Lautsprecher.
So langsam kippte die Stimmung. ICE-Publikum ist eine kritische Masse, das sind meist Leute, die keine Not mehr kennen, und die ticken schnell aus, wenn was nicht nach Plan geht (nach ihrem Plan wie sie irrtümlicher Weise denken).
Zum Glück war viel Studentenpack in den Waggons, die nahmen es wie ich meist gelassen, die eine oder andere hübsche Studentin deeskalierte die aufkommende schlechte Stimmung unter den männlichen Philistern mit einem Lächeln.
Mein Augenmerk galt einem jungen Paar mit Migrationshintergrund, die wussten überhaupt nicht was abging, konnten wohl kein deutsch. Wenn eine Durchsage kam nickte ich den beiden immer lächelnd zu, das beruhigte sie. Ging allerdings jemand von der Bundespolizei durch die Gänge, wurden die beiden ganz nervös. Aber die Bahnbullen hatten besseres zu Tun als vermeintlich illegale Ausländer unter den Bahnpassagieren zu suchen.
Nach insgesamt zweieinhalb Stunden ohne nennenswertes Vorwärtskommen teilten die Zugbegleiter Gutscheine für den Bistrowagen aus, fünf Euro pro Passagier.
Ich nahm mich jetzt endgültig dem hilflosen Paar an. Viele der anderen Reisenden (sicher nicht alle) beäugten die beiden skeptisch, sich fragend, warum sich diese ärmlichen Ausländer ein ICE-Ticket leisten konnten.
Er, Yossef hieß er, konnte sich auf Englisch verständigen, sie beherrschte anscheinend nur ihre Muttersprache, welche auch immer das war. Ich kassierte beider Gutscheine ein und holte auf Yossefs Wunsch zwei Becher Schwarzen Tee und für mich natürlich ein Hefeweizen.
Die Lösung: Der Zug solle zeitnah von Dieselloks nach Stendal (where the fuck is Stendal?) gezogen werden. In Stendal würden die Fahrgäste dann informiert, wie es weitergeht.
Ich übersetze das für Yossef und seine Frau, die Mirjam hieß. Ich bekam heraus, dass die beiden auf dem Weg nach Frankfurt waren, dort haben sie Verwandte, sie sind in Deutschland nur geduldet und dürfen ihren Wohnort Berlin eigentlich nicht ohne Erlaubnis verlassen.
Drecksstaat!
Yossef und Mirjam sind staatenlose Mizrachim, also irgendsowas wie arabische Juden, aus dem Jemen nach Deutschland geflüchtet.
Ich unterhielt mich prächtig mit meinem neuen Freund, sein Englisch war gar nicht mal so schlecht. Er erwähnte, dass von Beruf Zimmermann sei und gerne in Deutschland arbeiten würde; aber seine Ausbildung zähle hier nicht und als Geduldeter dürfe er eh nicht arbeiten, so lange noch ein Deutscher arbeitslos sei, der einen Nagel in ein Brett schlagen könne.
Vom Rest der Gutscheine und ein paar Euro von mir holte ich noch zwei koschere Hefeweizen und einen Tee für Mirjam, mit der ich mich leider kaum verständigen konnte.
Es war Yossefs erstes Hefeweizen, es mundete ihm, darauf bin ich stolz!
Die weitere Information zu unserem Fortkommen kam promt und war sehr ernüchternd:
Heiligabend ging nix mehr, die Bahnhofsmission und das rote Kreuz hatten schon gemeinsam mit der Bundeswehr Notunterkünfte in Turnhallen und Schulen eingerichtet:
Das Rote Kreuz sorgte für die Verpflegung, die Bundeswehr stellte die Feldbetten auf und die Bahnhofmission versucht alles ein wenig Weihnachtlich zu gestalten. Und Stendalbus organisierte den Transport, ausreichend Busse standen schon vorm Bahnhof.
Alles war eigentlich perfekt organisiert, die Grundschule am Stadtsee war unser mehr oder weniger zufälliges Ziel, sie war von der Bahnhofmission Stendal weihnachtlich in Notunterkunft Bethlehem umgetauft worden. Mirjam, Yossef und ich wurden mit einer Gruppe von drei lesbischen Schäferinnen aus Mecklenburg-Vorpommern in einen Klassensaal mit sechs Feldbetten verfrachtet, auch der Raum der 2b hatte Heilig Abend einen weihnachtlichen Namen: Stall.
Leider gab's kein Bier, nur Tee und Softdrinks. Hinterher, wir gaben Mirjam in die Obhut der Schäferinnen, lud ich Yossef noch in eine Kneipe ein.
Er war total heiß auf Hefeweizen, erzählte viel von der Diaspora gemeinsam mit seiner Frau.
Als er dann schon ein wenig angetütelt war, meinte er scherzhaft, er sei gar nicht der Vater von Mirjams Kind, er zog erst von acht Monaten zu seiner Frau nach Deutschland nach und sie sei im neunten Monat...
Ich beruhigte ihn, inzwischen tranken wir zu jedem Bier einen Schnaps, manche Frauen bekämen schon noch acht Monaten ihr Junges, oder es sei vom Heiligen Geist, damit konnte es als Jude natürlich nichts anfangen.
Sturzbesoffen kamen wir um halb zwei in den Stall in Bethlehem (ehemals Raum der 2b der Grundschule am Stadtsee).
Im Stall war die Hölle los:
Mirjams Wehen hatten eingesetzt, sie kam gerade nieder.
Ich stand da wie der Ochs vorm Berg und Yossef, der trunkene Esel, wusste auch nicht was zu tun ist.
Aber die Schäferinnen hatten zum Glück alles im Griff, es war genügend heißes Wasser da. Aufgrund der Aufregung waren Yossef und ich auch nach kurzer wieder nüchtern.
Das Kind, ein Mädchen, kam schnell. Mirjam schrie wie am Spiess.
Nun schritt der Vater ein, er riss der einen Schäferin die Verbandskastenschere aus der Hand und gab sie mir:
Ich solle die Nabelschnur durchschneiden, wir wurde schlecht, aber ich tat es - und damit bin ich der Pate des Mädchens, sie heißt Messia.
Heute Morgen wurden Mutter und Kind zur besseren Versorgung in ein Krankenhaus gebracht, der Vater fuhr mit.
Zuvor kam noch ein Reporter der Lokalzeitung und machte ein Bild von uns.
So war das, es geht mir gut, aber ich bin total verkatert und müde.
Natürlich werde ich mein neues Patenkind und seine Eltern sofort besuchen wenn sie wieder in Berlin sind.
Vielleicht wird ja mal was aus dem Mädel...